Im Juni traf sich in London zum 50. Mal die ICANN-Community, um über so wesentliche „Internet-Governance-Themen“ wie den Status-Quo des Multi-Stakeholder-Modells, die Erweiterung des Internet-Namensraums oder die Struktur der Root-Server zu sprechen. Ein ganz wichtiges Thema ist auch der geplante Rückzug der USA über die so genannte „IANA“. Die „Internet Assigned Numbers Authority“ gilt als das Herzstück der Verwaltung zentraler Netzinfrastrukturen wie der „DNS-Rootzone“ mit den Top-Level-Domains und als wichtigste Instanz bei der Vergabe von IP-Adressblöcken. ICANN soll nun einen Vorschlag zur Gestaltung des künftigen „IANA-Managements“ erarbeiten. Damit ziehen sich die USA ein Stück weiter aus ihren direkten Einflussmöglichkeiten auf das Internet zurück. ICANN soll bei der Neustrukturierung ausdrücklich auch mit der Netzöffentlichkeit zusammenarbeiten.
Diese bevorstehende Zuständigkeitsänderung ist in London auch ein großes Thema für die bei ICANN in der so genannten „At-Large-Struktur“ zusammengeschlossenen zivilgesellschaftlichen Akteure gewesen. Natürlich spielten für die Zivilgesellschaft weitere wichtige Themen wie die Gewährleistung der Netzneutralität oder die demokratische Ausgestaltung des Internet-Namensraums eine gewichtige Rolle, doch auch bei der Reform der Internetaufsicht will man über eine Arbeitsgruppe mitreden, die sich aus verschiedenen ICANN-Gremien zusammensetzen soll und demnächst ihre Arbeit aufnehmen wird.
AT LARGE als zentrales Instrument zur Nutzereinbindung
Diverse Organisationen sind weltweit für die Verwaltung des Internets zuständig – die ICANN und die IANA verwalten dabei im Wesentlichen die weltweiten IP-Adressen und die DNS-Rootzone. ICANN zeichnet sich dabei durch einen besonderes Mitbestimmungssystem aus. Der so genannte Multi.-Stakeholder-Ansatz besagt, dass alle gesellschaftlichen Akteure, denen das Internet etwas ausmacht, wie Unternehmen, Regierungen, Akteure der Zivilgesellschaft, aber auch die technische Community oder Gewerkschaften intensiv kooperieren und eine Entscheidungsfindung möglichst auf Augenhöhe stattfindet. So setzt sich das maßgebliche ICANN-Board aus mehrheitlich aus Vertretern zusammen, die von einem unabhängigen und plural zusammengesetzten Nominierungs-Komitee vorgeschlagen werden, so ist auch eine Mitsprache der Zivilgesellschaft grundsätzlich gewährleistet.
Grundsätzlich ist beim ICANN-Modell jede Strukturgruppe auf dem gleichen Level, nur die Regierungen verfügen über mehr Rechte. So muss der ICANN-Vorstand etwa zwingend antworten, wenn das „Government Advisory Commitee“ über ICANN eine Anfrage startet oder formale Bedenken hat.
Damit die Zivilgesellschaft mit einer möglichst starken Stimme sprechen kann existiert seit 2003 ein System bei ICANN, bei dem über die Bildung lokaler und regionaler At-Large-Strukturen die weltweite Nutzercommunity in die Arbeit von ICANN einbezogen werden soll.
Dafür würde ein so genanntes „At Large Advisory Committee (ALAC)“ ins Leben gerufen, um den Internetnutzerinnen und -nutzern auch strukturellen Einfluss innerhalb ICANNs zu geben. Es werden aus jeder geographischen Region (Afrika, Asien/Pazifischer Raum , Lateinamerika/Karibik, Europa, Nordamerika) Mitglieder für dieses Gremium ernannt, das wiederum Verbindungspersonen für den ICANN-Vorstand ernennt und über das „Nominating Committee“ auch Einfluss auf weitere wichtige Positionen innerhalb von ICANN ausübt. Es kann eigenständig Öffentlichkeitsarbeit machen und so die Nutzerinteressen vorantreiben. ALAC soll dabei eng mit Bürgerrechtsgruppen, Akademische Vereinigungen, Forschungsgruppen und Verbraucherschützern zusammenarbeiten.
Wenn sich mehrere lokale At-Large-Strukturen in einer Region gebildet haben, können diese Gruppen im Rahmen einer eigenen „Regional-At-Large-Organisation (RALO)“ zusammenarbeiten, die wiederum ihre Mitglieder in die entsprechenden weiteren At-Large-Strukturen entsendet – in Europa nennt sich so ein Zusammenschluss EURALO.
Natürlich hört sich dies in der Theorie besser an als in der Praxis, und es gab ja auch bereits Versuche direkter Netzdemokratie bei ICANN (Online-Wahl eines Direktorenposten im Jahr 2000), doch immerhin gelingt es immer wieder, Aktivisten aus der Nutzercommunity in wichtige ICANN-Gremien zu platzieren.
EURALO und der Ansatz für mehr Mitbestimmung
EURALO bildet die europäische Struktur von “At Large” ab und wurde 2007 gegründet. Mittlerweile sind rund 30 Mitgliederorganisationen aus Europa dabei, darunter viele Ableger der NGO „Internet Society“, die in Deutschland jedoch praktisch keine Rolle spielt. In Deutschland zählen neben „Digitale Courage“ die „Deutsche Vereinigung für Datenschutz (DVD)“ oder das „Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF)“ zu den Mitgliedsorganisationen. Erfreulicherweise sind mit der EURALO Ind. Assoc. und ISOC Portugal 2014 zwei neue Organisationen hinzugekommen. Aus Deutschland vertreten Sandra Hoferichter (als At-Large-Advisory-Committee-Mitglied) und Wolfgang Kleinwächter (als Boardmitglied) EURALO in den ICANN-Strukturen.
Interessant: Auch individuelle Mitgliedschaften sind grundsätzlich möglich. In London fand ein Meeting („GA-Inline“) von Aktivisten statt, die diese Form der ICANN-Beteiligung weiter voranbringen möchten. Doch EURALO versucht bereits seit längerem, weit über die eigene Strukturen hinaus zu agieren. So waren EURALO-Mitglieder maßgeblich an der Gründung und Lancierung des jährlich stattfindenden und hochkarätig besetzten Internet Governance-Dialogsvon EuroDIG beteiligt; EURALO ist dabei institutioneller Partner neben dem Europarat, der Schweizer OFCOM, der EBU, dem Europäischem Jugendforum und weiteren Organisationen.
Auch an der Gründung einer so genannten ICANN-Akademie ist EURALO beteiligt, diese soll vor allen Dingen Neulingen (über ein bereits existierendes Stipendienprogramm zur Teilnahme an ICANN-Meetings hinaus) die Möglichkeit bieten, durch Fachseminare und Mentoren besser und schneller die ICANN-Strukturen zu verstehen.
EURALO steht in den nächsten Monaten vor zahlreichen Herausforderungen. Im Vordergrund steht nach wie vor die Vergrößerung der Mitgliedschaft. Während man vor allem in Westeuropa gut aufgestellt ist, gibt es nach wie vor große Lücken in Ost- oder Südeuropa, obwohl z.B. Bulgarien, Portugal, die Ukraine oder auch Slowenien mittlerweile dabei sind. Ambitioniertes Ziel bleibt es, in jedem europäischen Land über eine Mitgliedsorganisation zu verfügen. Potential ist im Bereich Wissenschaftliche Organisationen und neueren Datenschutzbewegungen zu sehen – vor allem junge Menschen müssen stärker eingebunden werden. Auch die Dominanz der „Internet Society“, in Deutschland eher ein loses und unbedeutendes Bündnis, ist ein immer wiederkehrendes Thema.
Der neue Internetadressraum ist voll kommerzieller Bedrohungen
Wichtige politische Themen für EURALO sind die Demokratisierung des Namensraums, die bessere Auffindbarkeit von Nischenangeboten und die multikulturelle Abbildung der Domainnamen durch Schriftarten wie arabisch oder kyrillisch. Der Handlungsbedarf in Sachen Domain-Registrierung ist riesig; Die teuersten Domains wechselten in Deutschland in den letzten Jahren schon mal für sechsstellige Beträge den Besitzer, in den USA flossen gar Millionenbeträge.
Hier hat sich in den letzten Jahren unheimlich viel getan. So hat ICANN Anfang diesen Jahres zahlreiche neue, vor allem generische Top-Level-Domains (TLDs) freigeschaltet. Darunter relevante Städtedomains wie „.berlin“ oder „.hamburg“. Aber auch absurde Endungen wie „.guru“ oder solche mit hohem kommerziellen Potential wie „.hotel“, „.shop“ oder „.sport“.
Unter den neuen deutschsprachigen Endungen sind einige weitere mit regionalem Bezug dabei („.koeln“, „.wien“, „.bayern“, „.nrw“, „.saarland“ und „.tirol“), fünf beziehen sich direkt oder indirekt auf Branchen („.haus“, „.reise“, „.reisen“, „.schule“ und „.versicherung“), zwei weitere sind eher allgemein gehalten („.kaufen“ und „.gmbh“).
Rund 2000 Bewerbungen um eine neue Domain-Endung sind insgesamt seit der ersten großen Bewerberphase im Jahr 2012 bei ICANN eingegangen. In rund 675 Fällen geht es dabei um Markenendungen wie „.audi“ oder „.lidl“, auf die Markeninhaber exklusiv Zugriff haben. Es bleiben ungefähr 1.250 Bewerbungen um öffentlich zugängliche Top-Level-Domains (TLDs) übrig. Der Antragsvorgang selbst ist sehr kompliziert und sehr teuer: Allein das Anmeldeverfahren verschlingt eine sechsstellige Summe und In den so genannten „fakultativen Landrush-Phasen“ werden kommerziell besonders interessante „Premium“-Domains an den Meistbietenden versteigert. Mit Beginn der Allgemeinen Verfügbarkeit gilt dann das „First-come-first-serve-Prinzip“. Von den gesamten Bewerbern haben bisher rund 330 das Prüfungsverfahren erfolgreich durchlaufen – Markenrechte hatten dabei stets Vorrang.
Sicherlich gibt es jetzt schon positive Auswirkungen: die Abhängigkeit von Suchmaschinen nimmt durch direkte Browsereingaben ab und alle Einwohnerinnen und Einwohner können ihre neuen Städte- oder Regionendomains für Namen, Vereine oder Firmen nutzen: Das Netz wird so ein ganzes Stück dezentraler. Der Bedarf scheint gerade hier vorhanden So ist „.berlin“ bislang eine der erfolgreichsten neuen TLDs.
Auch gibt es sehr schöne Domainprojekte in der Nische: So hat die Hamburger Werbeagentur thjnk eine Domain beantragt, die Geld für den Kampf gegen Aids einbringen soll: die Top-Level-Domain „.hiv“. Funktionieren soll es folgendermaßen: Die Käuferinnen und Käufer einer „.hiv“-Domain bezahlen 150 Euro pro Jahr für die Registrierung. Ein Großteil des Geldes soll in Projekte für die Aidsbekämpfung fließen. Schon vor dem offiziellen Start der Domain am 26. August diesen Jahres soll es bereits über 10.000 Vorregistrierungen geben.
Leider gibt es auch bedenkliche Entwicklungen: Die Endung „.kinder“ will Ferrero exklusiv für seine „Kinder“-Produktlinie nutzen, „.vermögensberatung“ sowie „.vermögensberater“ soll eine geschlossene Endung der Deutschen Vermögensberatungs AG werden. Google ist natürlich auch mit von der Partie. Über die Firmentochter „Charleston Road Registry“ hat sich der Konzern für über 100! Endungen beworben. Darunter auch zahlreiche Markenendungen wie „.youtube“ und „android“.Im deutschen Sprachraum interessiert sich Google bislang jedoch nur für die Endung „.gmbh“. Auch Amazon ist bei den neuen Endungen prominent dabei. Über die in Luxemburg angesiedelte Tochter „Amazon EU S.à r.l.“ bewirbt sich der E-Commerce-Riese um 76 Endungen, darunter TLDs wie „.kindle“, „.read“ oder „.music“.
Amazon hat nun zumindest den Kampf um die neue Top-Level-Domain „.amazon“ verloren. Der ICANN-Regierungsbeirat GAC kam auf Drängen Brasiliens, Peru, Argentinien, Chile und Uruguay beim 47. ICANN-Treffen überein, die ICANN zur Ablehnung der Bewerbung aufzufordern. Doch es geht um zahlreiche weitere Domains: Amazon hat sich alles in allem für 76 neue Top-Level-Domains beworben, hierunter auch die heißbegehrte „.book“-Domain.
Auch scheint sich ein weiterer unschöner Trend zu etablieren. Das kommerzielle Potential neuer TLDs scheint so hoch zu sein, dass finanzstarke Investment-Funds die horrenden Anmeldegebühren für noch so abwegige Adressen investieren und mit globalen Großregistraren wie z.B. „Go Daddy“ aus den USA eng kooperieren. So hat als weiteres Beispiel das aus dem Hedgefondsumfeld stammende US-Registry-Startup „Donuts“ über 300 Bewerbungen für neue Endungen eingereicht. Für jede einzelne Bewerbung wurde eine eigene Firma mit so wohl klingendem Namen wie „Outer Moon“ oder „New Cypress“ gegründet, um direkt in das Endkundengeschäft einsteigen zu können. Im deutschen Sprachraum wird „Donuts“ die beiden deutschsprachigen Endungen „.schule“ (startet am 20. 8 14) und „.reisen“ (23. Juli14) betreiben. Um die Endung „.gmbh“ streitet sich „Donuts“ gerade mit vier anderen Unternehmen, darunter zwei kleinere deutsche Bewerber sowie (Überraschung!) ausgerechnet wieder Google.
Doch warum spielen selbst bei so allgemeinwichtigen Domains wie „schule“ vorwiegend kommerzielle Interessen eine Rolle? Eigentlich sollten bei gesellschaftsrelvanten TLDs Bewerbungen Vorrang genießen, welche zuerst die Interessen der jeweiligen Nutzerinnen und Nutzer oder Branchen bei der Registrierungspolitik berücksichtigen – so genannte „Community-Interessen“. Doch die hierfür implementierte Überprüfung – „Community Prior Evaluation“ – funktioniert nicht, bislang unterlagen die Communities in acht von zehn Streitfällen. Dies liegt im Wesentlichen an den zu strikten ICANN-Regularien für Community-Bewerbungen, die u.a. detaillierte Mitgliederlisten, Mitgliedsgebühren und Satzungen vorsehen. Oder auch an dem Betreiber der Evaluierung: ICANN entschied sich für die Tochter eine globalen englischen Wirtschaftsverlages („Economist“).
Mitmachen bei ICANN ist alternativlos
Die „Schlacht“ um den Internet-Namensraum geht weiter. So hat die „Generic Names Supporting Organization (GNSO)“ innerhalb von ICANN bereits mit einem „Call for Volunteers“ vom Juli alle Freiwilligen dazu aufgerufen, an Diskussionen zu den nächsten Einführungsrunden – auch zur Rechtewahrung der NGOS -teilzunehmen. Wichtig ist, dass die Stimme der Zivilgesellschaft nicht zu kurz kommt, eine möglichst breite Beteiligung wäre großartig; Informationen unter: http://gnso.icann.org/en/.
Unstrittig ist: Um die globale Entwicklung des Netzes auch als zivilgesellschaftliche Akteur(in) zu beeinflussen, ist ein Mitmachen bei ICANN momentan alternativlos. Die Einstiegsschwelle dabei ist gar nicht hoch: So ist z.B. die deutsche NGO „Digital Courage“ Mitglied bei EURALO und kann jederzeit über Einstiegsmöglichkeiten informieren.
Oliver Passek